Perihelverschiebung in der Relativitätstheorie
Der wahrscheinlich wichtigste Test der allgemeinen Relativitätstheorie ist die korrekte "Vorhersage" des Anteils der Perihelverschiebung vom Merkur, der durch die klassische Physik nicht erklärt werden kann. Dieser Anteil summiert sich in einem Jahrhundert auf etwa 43 Bogensekunden (bei einem Total von etwa 5600 Bogensekunden). Im gleichen Zeitraum absolviert der Merkur 415 Umdrehungen. Das entspricht in etwa 540'000'000 Bogensekunden. So ergibt sich ein Verhältnis der "relativistischen" Perihelverschiebung zu normalem Umlauf in der Grössenordnung von 10-7 bis 10-8.
Albert Einstein führt dieses Voranschreiten der Apsidienlinie auf die allgemeine Raumkrümmung (in der Zeit) zurück. Diese soll durch grosse Massenkonzentrationen erzeugt werden. Die Rotation der Sonne spielt dabei keine Rolle. Seine Lösung ist mathematisch sehr elegant, denn in gewisser Hinsicht reduziert er das Problem auf die Beschleunigung-Nichtbeschleunigung des Lichtes im Raum-Zeit-Kontinuum.
Auf der einen Seite spricht Einstein von einem beschleunigten Raum (Äquivalenz von schwerer und träger Masse), und auf der anderen Seite gibt es das Postulat der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Wenn aber alles im Raum in gleicher Weise beschleunigt wird, so folgt daraus, dass sich auch die Lichtgeschwindigkeit verändert. Will man die Zunahme der Lichtgeschwindigkeit berechnen, die durch die Gravitation der Sonne verursacht wird, so muss man die Beschleunigung, die das Licht zu jedem Zeitpunkt erfährt, über die Zeit integrieren. Da die relative Änderung der Lichtgeschwindigkeit minimal ist, kann man als sehr gute Näherung die Zeit ersetzen, und zwar durch den Quotienten von Weg und Lichtgeschwindigkeit (der relative Fehler ist dann kleiner als die relative Zunahme der Lichtgeschwindigkeit, liegt also in der Grössenordnung von l0-8). So ergibt sich folgende Zunahme der Lichtgeschwindigkeit in Abhängigkeit des Abstandes von der Sonne:
INTEGRAL Abstand, ∞, [Sonnenmasse ∙ Gravitationskonstante / x2] dx / c
und nach Integration:
(1 / Abstand) ∙ (Sonnenmasse ∙ Gravitationskonstante / c)
Mit den Werten:
Gravitationskonstante = 6.66 ∙ 10^-8 cm3/s2/g
Sonnenmasse = 1.99 ∙ 10^33 g
c = 0.3 ∙ 10^11 cm/s
Abstand.Erde = 149.6 ∙ 10^11 cm
MinAbstand.Merkur = 46.0 ∙ 10^11 cm
MaxAbstand.Merkur = 69.9 ∙ 10^11 cm
ergeben sich folgende Änderungen der Lichtgeschwindigkeit bis zum Erreichen der entsprechenden Planetenbahnen:
Zunahme(Abstand.Erde) = 3.0 m/s
Zunahme(Min.Abstand.Merkur) = 9.6 m/s
Zunahme(Max.Abstand.Merkur) = 6.3 m/s
Die relative Änderung liegt also auch hier in der Grössenordnung von 10-7 bis 10-8. Im gleichen Verhältnis, wie die Lichtgeschwindigkeit zunimmt, muss die Wellenlänge gestreckt werden. Eine Strahlung mit einer Wellenlänge von 1 m wird also bis zum Erreichen der Erdumlaufbahn um 0.000'010 mm und bis zum sonnennächsten Punkt der Merkurbahn um 0.000'032 mm länger. Es lässt sich relativ einfach zeigen, dass es für diese Längenzunahme keine Rolle spielt, ob die Strahlung den Zielpunkt tangential, radial oder in irgendeinem anderen Winkel erreicht. Wir haben also zwei verschiedene Längenmasse, das erste unter dem Postulat der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und das zweite unter der Annahme des beschleunigten Raumes.
Für die Planeten (inklusive des Kleinplaneten Icarus mit einer relativen Bahnexzentrizität von 0.827) erhält man die von der allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagten Werte auf folgende Art und Weise, aufgezeigt am Beispiel des Merkur: Auf einem Sonnenumlauf schwankt die oben eingeführte relative Längenzunahme zwischen den Werten 0.000'000'032 (im Perihel) und 0.000'000'021 (Aphel). Wenn der um die Sonne kreisende Planet auf jedem (infinitesimal kleinen) Streckenabschnitt noch dreimal die diesem Abschnitt entsprechende Längenzunahme (in Abhängigkeit des jeweiligen Sonnenabstands) weiter vorankommt, so ergibt sich anstatt der Newton'schen Ellipse die Rosettenbahn mit der "vorausgesagten" Perihelverschiebung. In der Umgebung des Perihels bedeutet das konkret folgendes: Zu jedem Meter, um den sich der Merkur beim Sonnenumlauf laut Newton'schen Gesetzen weiterbewegt, kommen bei Einstein noch 3 mal 0.000'000'032 m also 0.000'000'096 m hinzu.
Man kann auf diese Art und Weise die relativistische Perihelverschiebung mit einem simplen Computerprogramm berechnen. Für kreisförmige Bahnkurven lässt sich dasselbe auch analytisch sehr leicht zeigen. So beträgt die relativistische Perihelverschiebung laut "Grundzüge der Relativitätstheorie" von A. Einstein im Bogenmass:
(24 ∙ π3 ∙ a2) / ((1-e2) ∙ c2 ∙ T2)
wobei
a die grosse Halbachse der Planetenbahn
e die numerische Exzentrizität
c Lichtgeschwindigkeit
T die Umlaufdauer
bedeutet. Bei kreisförmigen Bahnkurven ist die Exzentrizität gleich Null und der Abstand von der Sonne ist also immer identisch mit der grossen Halbachse. Die Gravitationsbeschleunigung der Sonne mit Masse M und Gravitationskonstante G beträgt bei Abstand a
M ∙ G / a2
Da jeder Körper, der mit konstanter Geschwindigkeit v um einen Punkt im Abstand a kreist eine konstante Beschleunigung von v2/a Punkt hin erfahren muss und v durch 2π∙a/T ersetzt werden kann, ergibt sich weiter
M∙G / a2 = v2/a → M∙G = a∙v2 = 4∙π2∙a2 / T2
Wenn man M∙G durch diesen letzten Ausdruck in der weiter oben hergeleiteten Formel für die Beschleunigung der Lichtgeschwindigkeit
(1/a)∙(M∙G /c)
ersetzt, so ergibt sich als absolute Zunahme von c
(4∙π2∙a2)/(c∙T2)
und als relative
(4∙π2∙a2)/(c2∙T2)
Nimmt man das dreifache dieser relativen Zunahme und bezieht es auf einen ganzen Planetenumlauf (2π im Bogenmass), so ergibt sich der gewünschte Wert:
3∙2π∙(4∙π2∙a2)/(c2∙T2) = (24∙π3∙a2)/(c2∙T2)
Man könnte annehmen, dies sei ein mathematischer Zufall ohne jede weitere Bedeutung, der bei schwacher Raumkrümmung auftritt. Ist es aber nicht wahrscheinlicher, dass es sich hierbei eher um eine Ursache der "Einstein'schen Raumkrümmung" als um deren Konsequenz handelt? Sicher war sich Einstein des Widerspruchs zwischen Konstanz der Lichtgeschwindigkeit einerseits und Beschleunigung des Raumes andererseits bewusst. Sicher hat er auch festgestellt, dass die (durch die Sonne bedingte) relative Lichtgeschwindigkeitszunahme bis zum Merkur in der Grössenordnung der damals schon bekannten Perihelverschiebung lag. Von diesem Zeitpunkt an war Einstein wahrscheinlich überzeugt, dass hier die Ursache dieses Phänomens zu suchen sei.
Bei genauer Rechnung ergab sich dann zufälligerweise relativ genau der Faktor 3. Es ist Einstein zu verdanken, daraus eine (mehr oder weniger) kohärente Theorie entwickelt zu haben. Aus dieser Theorie folgt dann auch eine Lichtablenkung am Sonnenrande, die um den Faktor 2 grösser ist, als die, die man unter der einfachsten aller Annahmen erhält, nämlich der, dass alles im Raum in gleicher Weise von einem Gravitationsfeld beschleunigt wird.
So ist an der Herleitung der relativistischen Perihelverschiebung aus den Einstein'schen Feldgleichungen bemerkenswert, dass dabei auch deren nichtlineare Terme auftreten. Bei alleiniger Berücksichtigung der linearen Terme ergäbe sich auch hier der Faktor 2 (in Relation zur relativen Lichtgeschwindigkeitszunahme), was eine Perihelverschiebung des Merkurs von etwa 29 anstatt 43 Bogensekunden ergeben würde.
In Sachen Lichtablenkung am Sonnenrande ist noch folgendes zu bemerken: Es wird immer darauf hingewiesen, dass sie experimentell nur schwer zu messen ist. Die Resultate der Sonnenfinsternis von 1919 bestätigten zwar eindeutig das (damals als revolutionär betrachtete) Phänomen der Lichtablenkung, aber bei der Bestimmung des effektiven Wertes der Erscheinung gab es einige Mühe. So waren die ersten Photographien allgemein enttäuschend, und H. Lorentz schrieb (nach Auswertung der weiteren Photographien) u.a. folgende Zeilen an Einstein: "... Da die Platten erst vorläufig ausgemessen waren, so liess sich ein definitiver Wert noch nicht angeben, aber nach Herrn Eddington's Meinung stehe die Realität der Erscheinung fest und könne man mit Bestimmtheit sagen, dass die Ablenkung (am Sonnenrande) zwischen 0,87', und 1,74'' liegt ...". Wenn man bedenkt, dass Eddington's Expedition unternommen wurde, um Einsteins Wert von 1.74'' zu bestätigen, so ist es allzu verständlich, dass schliesslich eine gute Übereinstimmung mit der allgemeinen Relativitätstheorie gefeiert werden konnte.
Eine sehr viel genauere Bestätigung ergibt sich bekanntlich aus einem Experiment, bei dem die Ablenkung von Radiowellen, die von einem Quasar stammen, gemessen wurde. Das Resultat von 1.73'' ± 0.05'' ergab sich aus radiointerferometrischen Messungen mit einem dem Quasar benachbarten Bezugsobjekt. Jedoch relativiert sich dieses Ergebnis insofern, als es grosse Schwierigkeiten bereitet, den "relativistischen Effekt" von der Beugung durch die Sonnenkorona zu separieren.
Nach dem oben Gesagten dürfte es eigentlich niemanden mehr erstaunen, dass die von der allgemeinen Relativitätstheorie für die Perihelverschiebung berechneten Werte zwar für den Merkur ziemlich genau stimmen, nicht mehr jedoch für die übrigen Planeten.
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