Das Ende des Reduktionismus

Ein grosser Teil der Materie von dir wird beim Stoffwechsel regelmässig ersetzt. Sowohl dein Körper als auch dein Empfinden, Denken und Verhalten ändern sich ganz erheblich im Laufe deines Lebens. Deine psychischen Eigenschaften, die empirischer Forschung zugänglich sind, hätten sich unter anderen Umständen anders entwickelt. Trotzdem bist du wahrscheinlich überzeugt, dass du selbst das Kleinkind mit deinem Namen warst und dass du auch dann noch du wärst, wenn man dich als Kleinkind entführt und in einem fremden Kulturkreis aufgezogen hätte.

Die Annahme, dass jeder von uns das ganze Leben dasselbe die Welt erlebende Subjekt bleibt, ist tief im menschlichen Denken verwurzelt. Sonst wäre folgender Gedankengang vernünftig: Für den alten Geizkragen, der sich aus mir entwickeln wird, spare ich keinen Groschen. Auch wäre unverständlich, dass Menschen manchmal jahrzehntelang nach verschwundenen Verwandten oder Bekannten suchen.

Billionen Eizellen sind während des Millionen Jahre dauernden Übergangs von affenähnlichen Vorfahren zu uns heutigen Menschen erfolgreich befruchtet worden. Prinzipiell lassen sich diese Befruchtungen nummerieren, und derjenigen, die zu einem Reduktionisten R geführt hat, können wir die Nummer n zuweisen. R glaubt, dass Physik und Chemie ausreichen, eine befruchtete Eizelle in einen Menschen mit subjektivem Empfinden zu verwandeln.

Aber der fundamentale Unterschied der Befruchtung n (und des sich daraus entwickelnden Körpers) zu Billionen anderen bleibt für R unerklärbar. Eine reduktionistische Erklärung für diesen Unterschied kann es nicht geben. Sie müsste ihn auf einen materiellen Unterschied in den befruchteten Eizellen zurückführen, und diesen kann es nicht geben, weil sich für jeden Reduktionisten eine andere Befruchtung auszeichnet.

Auch eine statistische Erklärung, wie sie bei kausal nicht determinierten physikalischen Ereignissen Anwendung findet, ist nur mit Gewalt möglich. Denn zufällige Verknüpfung von n mit R setzt Präexistenz von R als potentiellem Subjekt voraus. Dem konsequenten Reduktionisten bleibt nichts anderes übrig, als entweder jedes Bewusstsein zu leugnen oder den Unterschied des eigenen zu dem der Mitmenschen.

Der Versuch, individuelles Bewusstsein aus der befruchteten Eizelle ableiten zu wollen, beinhaltet weitere Probleme. Was ich im Folgenden anhand der DNA aufzeige, gilt analog für die ganze befruchtete Eizelle. Prinzipiell lässt sich die DNA eines Menschen kontinuierlich durch kleine Änderungen in die DNA eines anderen Menschen überführen. Hingegen ist individuelles Bewusstsein insofern diskret, als es unmöglich ist, gedanklich das Ich-Bewusstsein (im Gegensatz zu den psychischen Eigenschaften) eines Menschen kontinuierlich in das Ich-Bewusstsein eines anderen Menschen zu überführen.

Auch das Beispiel eineiiger Zwillinge zeigt, dass eine befruchtete Eizelle nicht ausreicht, individuelles Bewusstsein zu determinieren. Die Zwillinge stammen von derselben Zelle ab, empfinden und erleben die Welt aber jeder für sich.

Als eindrücklichste Widerlegung des Reduktionismus dient ein Gedankenexperiment. Eine Maschine soll in der Lage sein, von allem eine Kopie herzustellen, die sich physikalisch und chemisch nicht vom Original unterscheidet. Gemäss reduktionistischer Sicht wäre eine solche Kopie von dir lebensfähig, ja prinzipiell nicht von dir unterscheidbar. Die Kopie hätte alle deine Erinnerungen und Eigenschaften und würde wie du glauben, du zu sein. Ja nicht einmal die Frage, wer von euch dein Ich-Bewusstsein weiterträgt, könnte sinnvoll gestellt werden.

Im Folgenden gehe ich davon aus, dass jeder von uns unabhängig von den Zufälligkeiten des Lebens immer dasselbe die Welt erlebende Subjekt bleibt. Dieses Subjekt bezeichne ich als Seele. Der Begriff 'Seele' abstrahiert vom Alter und von momentanen körperlichen und psychischen Zuständen. Ohne zweiten Weltkrieg hätte gemäss reduktionistischer Sicht keine Seele der Nachgeborenen je das Licht der Welt erblicken können. Denn keine Befruchtung hätte genauso stattfinden können, wie sie nach dem Weltkrieg stattgefunden hat. Die Seelen der meisten von uns wären somit nicht vorhanden. Stattdessen wären ganz andere Seelen geboren worden. Es stellt sich die Frage, ob diejenigen von uns, die nicht geboren worden wären, dann die Möglichkeit hätten, irgendwann unter anderen Umständen geboren zu werden.

Ist es Zufall, dass wir ausgerechnet im 20. Jahrhundert geboren wurden, so wie andere Seelen in anderen Jahrhunderten geboren wurden und (hoffentlich) werden? Wenn du schon als Neandertaler gelebt hättest, hättest du dann jetzt nicht mehr geboren werden können? Sprechen vernünftige Gründe dafür, dass alle Seelen der Verstorbenen und der noch nicht Geborenen, sich von allen Seelen, die heute leben, unterscheiden müssen? Früher glaubte man an eine begrenzte Anzahl (menschlicher) Seelen, die darauf gewartet haben oder warten, einmal auf der Welt zu leben. Doch heute wissen wir, dass es eine kontinuierliche Evolution gegeben hat, dass zwischen Mensch und Tier kein prinzipieller Unterschied besteht.

Die menschliche Fruchtbarkeit ist weltweit am Sinken. In immer mehr Ländern gleicht sich die Geburtenrate der Sterberate an. Exponentielles Wachstum wird in der Natur nie über längere Zeit aufrechterhalten. Tiere mit ausgeprägten seltenen Eigenschaften lassen sich oft schlecht vermehren. Die intelligentesten Laborratten sind meist wenig vital und werden selbst in extremen Inzuchtstämmen als Geschwister oft ziemlich unähnlicher Ratten geboren. Es lassen sich mit ihnen aber keine neuen Stämme intelligenter Ratten gründen. Viele angeborene Eigenschaften von Kindern und Haustieren spotten jeder darwinistischen Erklärung. Wenn Haustiere verwildern, werden schon nach wenigen Generationen Individuen mit stark abgeschwächten Domestikationsmerkmalen geboren.

Es ist bezeichnend, dass die synthetische Herstellung von Harnstoff des Jahrs 1828 den Sieg der reduktionistischen Sicht vom Leben symbolisiert. Während ein Molekül Harnstoff aber aus nur acht Atomen besteht, sind Enzyme aus bis zu vielen tausend Atomen zusammengesetzt und verhalten sich erstaunlich vielseitig und zielstrebig. Enzyme bauen und verändern Zellen und makroskopische Lebewesen, wie Termiten ihre Hügel. Dass Enzyme auch im Reagenzglas arbeiten (z.B. DNA kopieren), beweist keineswegs die reduktionistische Sicht. Dazu müsste man wenigstens ansatzweise aufzeigen, wie komplexes Verhalten von Enzymen (z.B. Orientierung innerhalb der Zelle) aus physikalischen und chemischen Gesetzen bei vernünftiger Einschätzung der Wahrscheinlichkeit folgen könnte.

Wenn man die genetische Information eines Menschen um das kürzt, was nicht benötigt wird, und den Rest komprimiert, bleiben etwa 10 bis 100 Megabyte. Dies reicht keineswegs aus, um Ontogenese, Eigenschaften und Verhalten eines Menschen und aller seiner Teile zu erklären. Zudem wird die genetische Information oft haarsträubend ineffizient verwendet. Genau so wenig reichen zufällige Mutationen aus, um die Evolution des Lebens zu erklären. Viele Formen von Symbiose sind so komplex, dass die Annahme, zuerst seien entsprechende Mutationen zufällig und unabhängig voneinander bei den an der Symbiose beteiligten Organismen aufgetreten, geradezu absurd ist.

Finale (zielgerichtete, nach Ordnung strebende) Naturgesetze sind nicht apriori weniger wissenschaftlich als kausale. Evolutionstheoretiker, die ohne finale Naturgesetze auszukommen glauben, sind sich der finalen Erklärungsprinzipien, die sie anwenden, nicht bewusst, oder sie überschätzen gewaltig die Kreativität des Zufalls. Konsequenterweise müssten sie auch den kulturellen oder wissenschaftlichen Fortschritt mit zufälligen Fehlern erklären (z.B. beim Denken oder Kopieren von Daten). Die Annahme, dass finale Prinzipien in der Evolution immer gewirkt haben, ist einheitlicher und eleganter als die, dass finale Prinzipien erst in Folge zufällig entstandener Organismen aufgetreten sind.


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