Die menschliche Seele

Die extrem komplexe menschliche Seele ist das einzige Psychon, das wir nicht nur von aussen sondern auch von innen kennen. Dieser subjektive Innenaspekt ist Voraussetzung für die Welt, die wir erleben. Alle Empfindungen, Wahrnehmungen und Erkenntnisse sind uns nur als Projektionen auf unsere menschliche Seele gegeben. Eine vom subjektiven Innenaspekt völlig freie 'objektive' Erkenntnis ist unmöglich. Objektivität kann nicht mehr als optimale, ideale Intersubjektivität sein.

Die räumliche Ausdehnung der menschlichen Seele ist ähnlich problematisch wie die räumliche Ausdehnung von Elementarteilchen. Nach dem Tod und vor einer erneuten Beseelung ist die Seele nur potentiell vorhanden und somit räumlich nicht lokalisierbar. Es sprechen Indizien dafür, dass die Seele eines noch lebenden Menschen mit einer erneuten Beseelung beginnen kann. Das Heranwachsen des Embryos und (in seltenen Fällen) Säuglings geht dann mit einem Nachlassen der Lebenskraft des noch Lebenden einher. Es scheint plausibel, dass das in der Evolution noch nie dagewesene gewaltsame Nicht-sterben-lassen eines Sterbenden zum Tod eines von der gleichen Seele beseelten Säuglings führen kann.

Dass dieselbe Seele gleichzeitig einen sterbenden und einen entstehenden Menschen, die tausende Kilometer voneinander entfernt sein können, beseelen kann, spricht eigentlich gegen ihre Lokalisierbarkeit im Raum. Die Seele lässt sich aber durch ihre Wechselwirkung mit dem Körper lokalisieren. Die bei weitem stärkste Wechselwirkung findet mit dem Gehirn statt. Wenn wir einen Finger bewegen, wirken wir nicht direkt auf den Finger, sondern auf Neuronen im Gehirn ein. Einen Schmerz im Fuss nehmen wir nicht direkt wahr, sondern erst im Gehirn. Auch optische Eindrücke nehmen wir weder direkt noch auf der Netzhaut wahr, sondern als neuronale Zustände. Diese Zustände sind das Resultat einer komplexen Verarbeitung, die von den Photorezeptorzellen ausgeht.

Die Hirnforschung hat gezeigt, dass optische Attribute wie Form, Bewegung und Farbe eines Gegenstands in verschiedenen Gehirnarealen verarbeitet werden, obwohl der Gegenstand dem Beobachter als etwas Einheitliches erscheint. Es ist die Seele, die die Zustände verschiedener Gehirnareale als ein einheitliches Bild des Gegenstands wahrnimmt. Dass Form und Farbe eines Dreiecks in verschiedenen Arealen wahrgenommen werden, ist nicht erstaunlicher, als dass Geruch und Farbe eines Getränks in verschiedenen Arealen wahrgenommen werden.

Farben lassen sich physikalisch durch Angabe eines Spektrums beschreiben. Die Verarbeitung der Farben im Gehirn lässt sich erforschen. Eine Farbempfindung geht mit einem Zustand von Neuronengruppen einher. Ein Absterben beteiligter Neuronengruppen kann die Farbempfindung verunmöglichen. Aber trotzdem ist die Farbempfindung etwas ganz anderes als der entsprechende neuronale Zustand. Die Farbempfindung setzt das seelische Gedächtnis voraus. Die Empfindung, die mit einer Farbe einhergeht, ist ein diffuses Gemisch aus Erinnerungen, bei denen derselbe oder ähnliche neuronale Zustände aufgetreten sind. Bei Rot sind es in erster Linie Erinnerungen an Blut, aber auch an Sonnenuntergang, Früchte und vieles mehr, bei Blau in erster Linie an den Himmel und bei Grün an die Pflanzenwelt.

Nur aufgrund von Erfahrungen unserer seelischen Entwicklung wissen wir, was in der 'Realität' welchen Zuständen des Gehirns entspricht. Das subjektiv wahrgenommene drei-dimensionale optische Bild einer Flasche in Reichweite existiert nicht als neuronaler Zustand, sondern setzt sich aus vielen subjektiven Komponenten zusammen. Diese sind jeweils ein diffuses Gemisch aus Erinnerungen an ähnliche Wahrnehmungen (bzw. neuronale Zustände) und aus den damit assoziativ verknüpften Vorstellungen (bzw. neuronalen Zuständen). Aufgrund dieser Erinnerungen wissen wir, wie wir 'die Hand ausstrecken' müssen, um die Flasche zu berühren.

Freude und Schmerz sind ursprünglich final begründet. Neuronale Zustände, die im Zusammenhang mit Überleben und Nachwuchs (dieser erhöht die Wahrscheinlichkeit für Wieder-geboren-werden) stehen, werden als angenehm, solche hingegen, die im Zusammenhang mit Sterben stehen, als unangenehm empfunden. Freude und Schmerz liegen nicht in den neuronalen Zuständen selbst begründet, sondern darin, mit welchen Erinnerungen diese Zustände in der Seele verknüpft sind. Wenn ein neuronaler Zustand, der normalerweise bei Freude auftritt, bei einem Menschen künstlich (z.B. durch Psychopharmaka) hergestellt wird, kann dieser Freude empfinden. Aber je häufiger und je länger dieser Zustand künstlich hergestellt wird, desto mehr wird die frühere Verknüpfung des Zustands mit realen erfreulichen Erlebnissen abgeschwächt.

Wenn der als Verbindung zwischen rechter und linker Gehirnhälfte dienende Balken durchtrennt wird, hat das erstaunlich wenig Auswirkungen. Es ist in erster Linie die Seele, die die Koordinierung beider Gehirnhälften aufrecht hält. Die Regenerationsfähigkeit nach Gehirnverletzungen zeigt, dass Neuronen und Neuronengruppen neue Funktionen übernehmen können und dass die Verknüpfung der Seele mit dem Gehirn nicht starr sondern flexibel ist. So wie der Körper ausserhalb des Gehirns nicht direkt mit der Seele verknüpft ist, gibt es auch im Gehirn Bereiche, die nur indirekt mit der Seele verknüpft sind.

Wenn man die Seele im Gehirn lokalisiert, handelt es sich bei (schwächeren) direkten Wechselwirkungen der Seele mit dem restlichen Körper um Fernwirkungen. Ein Einfluss der Seele auf das Immunsystem und auf die Heilung von Verletzungen scheint plausibel. Eine nicht über das Gehirn vermittelte Wahrnehmung eigener Körperteile kann (wie auch aussersinnliche Wahrnehmung) nicht ausgeschlossen werden. Um seelische Fernwirkung kann es sich auch bei Hypnose oder dann handeln, wenn ein guter Verkäufer jemandem etwas verkauft, das dieser weder braucht noch will.


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